Daniel Zöllner
Die Bewegung des Philosophierens

 

Ein Wissen um das eigene Nichtwissen steht – gut sokratisch – am Beginn der Liebe zur Weisheit, am Beginn des Philosophierens. Thaumazein, Staunen – mit diesem Wort benannten Platon und Aristoteles die Empfindung des Moments, in dem sichtbar wird, dass man eigentlich nicht weiß.
Wenn die Philosophie also aus dem Bewusstsein des eigenen Nichtwissens entspringt, ist dann ein Wissen ihr letztes Ziel, das am Ende alles Fragen zum Schweigen bringt? Ist ein System „absoluten Wissens“ das telos der Philosophie? So sah es Hegel: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein –, ist es, was ich mir vorgesetzt.“
Doch gibt das Philosophieren sich nicht selbst auf, wenn es aufhört, Liebe zur Weisheit zu sein, und zur Wissenschaft, zum System erstarrt? Wer die Verdrängung der Philosophie durch die modernen Wissenschaften mitverfolgt hat, wie zum Beispiel Heidegger, wird dazu neigen, dieser Ansicht zuzustimmen.
Vielleicht könnte man daher der Hegelschen Teleologie eine zirkuläre Bewegung des Fragens entgegensetzen, die niemals an ein Ende kommt: Ihr Ursprung liegt im Reich fragloser Selbstverständlichkeiten. Diese zerstört das Fragen, um sich im Moment des Staunens vom Wissen ins Nichtwissen zu bewegen. Von hier aus erscheint das anfängliche „Wissen“ als bloßes Scheinwissen, bloße Meinung (doxa). Doch wenn die so entstandenen Fragen beantwortet sind und erneut das Wissen den Platz des Staunens eingenommen hat, ist die Bewegung nicht an ihr Ende gelangt, sondern sie fängt wieder von vorne an: „Denn Bleiben ist nirgends.“ (Rilke)
Die Bewegung fängt wieder von vorne an – doch vielleicht ist sie auch der Spiralwindung eines Weges gefolgt, der nach oben und zugleich in die Tiefe führt. Wer eine dieser Windungen durchlaufen hat, macht die Erfahrung, dass nun blitzartig Anfang und Ziel in neuem Licht erscheinen. Ihm wird klar: „Die Vergangenheit ist Geschichte, das Künftige nur Vermutung; das Heute und Jetzt macht beide zu dem, was sie sind.“ (Moshe Feldenkrais) Es gilt für jedes philosophische Werk, ebenso wie für das ganze Leben, dass es nur als Bewegung, nur im Werden das ist, was es ist: „[D]as Werk selbst ist ein werdender Sinn, der sich in Übereinstimmung mit sich selbst oder in Reaktion gegen sich selbst aufbaut; jede Philosophie ist notwendigerweise eine (philosophische) Geschichte, ein Hin und Her zwischen den Problemen und den Lösungen; jede Teillösung wandelt das ursprüngliche Problem um.“ (Merleau-Ponty)
Nur das Erstarren und Stehenbleiben erzeugt die Illusion des sicheren, unerschütterlichen Wissens; doch wer geht, weiß, wie wenig er weiß: „All I know about method is that when I am not working I sometimes think I know something, but when I am working, it is quite clear that I know nothing.“ (John Cage) So kann das Ziel des Philosophierens also nur sein, Antworten zu geben, hinter denen die Fragen nicht ganz verschwinden. Antworten, die die Fragen nicht ganz unhörbar machen. Transparente, durchlässige, bewegliche Antworten.
Auf diese Weise könnte die Philosophie auch eine Ahnung von der Ganzheit vermitteln, die Frage und Antwort zugleich ist, und damit der Bewegung des Fragens und Antwortens die Ruhe schenken, die sie trägt. „Was den Philosophen ausmacht, ist die Bewegung, die unablässig vom Wissen zum Nicht-Wissen, vom Nicht-Wissen zum Wissen führt, und eine gewisse Ruhe in dieser Bewegung.“ (Merleau-Ponty)

 

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